"Drachenfliegen ist ein Sport und kann Dein Leben werden"

Mit diesen Worten wirbt der Deutsche Hängegleiterverband für unser Hobby. Lässt diese Formulierung nicht vermuten, dass Drachenfliegen ein gewisses Suchtpotential in sich birgt?

Viele Piloten fliegen einfach aus Spaß am Erleben der eigenen Freiheit. Drachenfliegen bíetet Ihnen die Möglichkeit, die Grenzen Ihrer eigenen Fähigkeiten auszuloten und dabei auch noch wunderschöne Erlebnisse in einem dem Menschen eigentlich fremden Element zu haben. Die Überwindung am Start, die bei den meisten Piloten wohl immer da ist, aber auch evtl. zu meisternde Risikosituationen versorgen den Körper kuzfristig mit Adrenalin. Die Ausschüttung der eigentlichen Glückshormone (Endorphine) erfolgt erst bei langen, schönen und stressfreien Flügen.Viele Piloten betreiben das Drachenfliegen aber auch als echten Leistungssport, bei dem es auf Kondition, Erfahrung, Taktik und Ausdauer ankommt. Bei dem in Deutschland nicht erlaubten Kunstflug mit dem Drachen, ist die Lust nach dem Kick neben den ästhetischen Aspekten sicher die Hauptmotivation. Kunstflug wird aber nur von einigen wenigen Drachenfliegern betrieben, oft verstärken diese Piloten ihre Fluggeräte oder modifizieren sie selbst.

Was aber treibt die Drachenflieger immer zum Berg? Viele Piloten stellen ihr ganzes Leben auf ihr Hobby ein.
Der Fallschirmspringer und Psychologe Dr. Gert Semler hat sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt und bietet folgende Motivationen:
(die unten aufgeführten Sachverhalte enthalten Zitate von Dr. Semler)

Das Erlebnis an sich
Zu Fliegen, in nahezu völliger Stille, die Welt unter sich wie eine Spielzeuglandschaft aus einer ‚abgehobenen‘ Perspektive zu erleben.

Die Stresssucht
Menschen, die ein starkes körperliches Verlangen nach Stresssituationen haben, können Risikosportarten dazu nutzen die Produktion von körpereigenen Morphinen anzuregen. Drachenfliegen ist keine typische Risikosportart, kann aber natürlich je nach Verhalten des Einzelnen wie eine betrieben werden. Jedoch kann auch unter diesen Risikosuchern nur eine sehr geringe Anzahl als ’stresssüchtig‘ angesehen werden.

Erlernte Angstbewältigung
Der klassische psychoanalytische Ansatz, der Risikoverhalten als eine Kompensation von Kindheitstraumata interpretiert. Eine Steigerung der Anforderungen an sich selbst ist vor allem auch beim Drachenfliegen sehr gut möglich. Es können immer anspruchsvollere Winde und Thermiklagen geflogen werden und der Pilot kann sich z. B. immer weitere Streckenaufgaben stellen oder sich immer gewagtere Flugmanöver vornehmen. Dass die meisten ‚Risikosportler‘ einer einmal gewählten Sportart treu bleiben, lässt sich mit dem Belohnungswert erklären. Was urspünglich als Angst empfunden wird, kann durch regelmäßiges Wiederholen als große Konzentrationsaufgabe oder gar als lustvolle Erregung erfahren werden.

Flow, die Qualität des Erlebten
Ziel des Fliegens ist das völlige Aufgehen in der Tätigkeit selbst. Die ganze Aufmerksamkeit ist beim Fliegen gezwungenermaßen auf das Tun gerichtet. Kein Zweifel, keine Gedanken stören bei der Ausübung der Tätigkeit. Alles geschieht scheinbar mühelos, auch schwerste körperliche Anstrengung. Jedes Nachlassen der Konzentration beendet diesen als so angenehm empfundenen Zustand. Wahrnehmung und Sein verschmelzen in diesem Zustand zu Ein- und Demselben. Im Flow-Zustand sieht man sich nicht mehr unabhängig von dem was man tut; Handeln und Bewußtsein sind identisch. Unter diesem Aspekt ist der Drachenflieger z. B. mit einem Kind beim Spielen oder einem Künstler beim Malen zu vergleichen, die Ähnliches erfahren.

Das Flow-Erlebnis ist eine existentielle Erfahrung, die das Bewusstsein der Menschen erweitert und ein Gegenpol zu der als immer unerträglicher empfundenen Reiz- und Informationsüberflutung, darstellt. Auch die vielfältigen und teilweise widersprüchlichen Anforderungen unserer Realität und den Mangel an Orientierungshilfen, dem wir in einer immer komplexer werdenen Welt ausgesetzt sind, zu bewältigen kann das Drachenfliegen hilfreich sein.

Kontrolle
Drachenfliegen bietet wie die meisten ‚Risikosportarten‘ eine hohes Maß an Kontrolle. Diese kann beim schwierigen Vorgang des Erlernens der Bewegungsabläufe und des Erfahrens von Gefahrensituationen erlernt werden.

Fazit


Risikosuchendes Verhalten, wie es auch das Drachenfliegen bieten kann, hat sicher etwas mit Angstbewältigung zu tun. Und in Einzelfällen dient es auch als Kompensation von aus Kindheitserlebnissen hervorgegangenen Ängsten. In der Regel jedoch sind Drachenflieger Menschen, die sich ihre kindliche Freude, die sie beim Ausüben ihres Hobbys verspüren, bewahren konnten und den hemmenden Einflüssen einer ausschließlich auf Ziele ausgerichteten Sozialisation wiederstehen konnten. Das Befriedigen der Neugier, das Überwinden von Angst, das Bewältigen von Herausforderungen, das Ausüben von Kontrolle und das Erlangen von Sicherheit ist Ausdruck der Freude über die eigene Entwicklung und das Erlangen von Lebenstüchtigkeit.

Zu den typischen Wesenzügen von Drachenfliegern gehört nicht der Drang, Produkte einer profitorientierten Freizeitindustrie zu konsumieren, sondern das Bedürfinis nach Reizvariation und die Bereitschaft nach neuen und unüblichen Lösungen zu suchen, wenn die gegeben Bedingungen ausgeschöpft sind. Drachenflieger suchen tatsächlich Freude und Glücksgefühle. Risiken und Angst nehmen sie nur billigend in Kauf. Sie suchen die Herausforderung und das Erleben, das damit verbunden ist. An der Herausforderung zu wachsen und seine Kompetenz und seine Fähigkeiten weiter zu entwickeln sind die eigentlichen Ziele.Freude und Glücksgefühle treten immer dann auf, wenn die Fähigkeiten im Einklang mit den Anforderungen stehen: z.B. wenn der Drachenpilot unter schwierigen Bedingungen an den Grenzen seine Möglichkeiten fliegt.

Suchtprävention

Viele Drachenpiloten reden offen von „ihrer Sucht“ wenn sie ihren Sport meinen und es ist unbestritten dass das Drachenfliegen zum Lebensinhalt werden kann. Gerade deshalb ist es sehr zur Prävention von gesundheitsschädlichem Suchtverhalten wie Rauschgiftkonsum, übersteigertem Agressionstrieb etc. bei Jugendlichen geeignet

Quelle: Die Lust an der Angst, Gerd Semler, Heyne Verlag 1994